Leseproben

aus: Hexenwerk

Noch nie war es für uns Hexen einfacher, unerkannt zu bleiben. Verschrobene Frauen mit einem Rudel Katzen werden nicht länger lebendig verbrannt, sondern haben unter dem Stichwort „Cat Lady“ ihren eigenen Wikipedia-Eintrag. Man kann sogar mit seinem Zauberstab in der Handtasche herumlaufen, ohne Aufsehen zu erregen, vorausgesetzt man trägt zusätzlich einen Gryffindor-Schal oder hat einen Schnatz am Schlüsselbund baumeln.

Doch diese Tatsache hat auch ihre Kehrseite: Wenn wirklich einmal eine Hexe irgendwo finstere Magie wirkt, bleibt ihre Tat meistens unentdeckt und mehr noch, ungesühnt.

Wer weiß, was geschehen wäre, wenn ich nicht durch Zufall auf die alte Meierbrink aufmerksam geworden wäre.

Wenn man ihr auf der Straße begegnete, erschien sie wie eine rüstige alte Dame: gekleidet in langweiliges Braun und Beige, die silbrig-weißen Haare ordentlich toupiert. Ihre Frisur glich einem seidenweichen Kokon, der auch kräftigsten Windböen trotzte. Wenn man sie ansah, dachte man: Mittwochs Kaffeekränzchen im Café am Theater, freitags Friseur, samstags Grabpflege auf dem Friedhof.

Alles falsch.

Freitags ging sie einkaufen und setzte sich anschließend am Spielplatz auf eine Bank, um den Kindern beim Klettern und Toben zuzuschauen. Und dann … tja, dann ging sie auf die Jagd.

Hexenwerk, in: Okernebel – Phantastisches aus Braunschweig, ISBN: 978-3746089201